Andrey Khlobystin

Андрей Хлобыстин

by Ekaterina Andreeva

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Andrey Khlobystin – Künstler-des-Lebens

Das Ding ist unbewaffnet. Es ist eine Schote.
                                 Bewaffnet ist nur der Haufen.
                                    Daniil Iwanowitsch Charms, 18 März 1930

Evgenij Kozlov Евгений Козлов Made in Russia (Oleg Kotelnikov / Олег Котельников) 1997

Evgenij Kozlov (E-E) o.T.  (Doppelportrait: Andrey Khlobystin und Evgenij Kozlov) 53 х 79 cm, mixed media, paper, 2000

Evgenij Kozlov (E-E)
ohne Titel

(Doppelportrait: Andrey Khlobystin und Evgenij Kozlov
53 х 79 cm, mixed media, paper, 2000

          Andrey Khlobystin, der bekannte Petersburger Künstler, Kunstwissenschaftler und Kurator, erblickte das Licht der Welt in einer patriarchalischen, nicht jedoch bürgerlichen Familie. Das muss näher erklärt werden. Wie bei patriarchalischen Familien üblich, so hatten auch seine Eltern viele Kinder, und Andreys Aufgabe als ältester Sohn war es in erster Linie, sich um die Erziehung der Geschwister zu kümmern. Die Lebensweise seiner Eltern, von Beruf Archäologen, war zum Teil recht nomadenhaft und unterschied sich stark von denen einer bürgerlich-patriarchalischen Familie mit ihren unseligen Bindungen, welche in unserem Jahrhundert mit großer Regelmäßigkeit die Ursache für jegliche Art von künstlerischem Aufruhr bildete. Andreys Vater führte im hohen Norden Ausgrabungen durch, auf der Insel Waigatsch. In dieser Region sind bis heute ursprüngliche Religionen und schamanische Rituale verbreitet. Über längere Zeit, von Wohnung zu Wohnung, behielt Khlobystin wie eine Familienreliquie einen Schamanenstab bei sich, der aus dem Norden mitgebracht worden war. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er damit die Hoffnung auf den Schutz durch exzentrische Götter verband.

          Eine andere Kulturepoche, die sich durch das gesamte Leben A. Xs [1] hindurchzog, war die Große Französische Revolution. Als er Ende der achtziger Jahre, als die Perestroika vorübergehend in Mode kam, in New York lebte und dort sein erstes Bankkonto eröffnete, wählte er als Pin-Code 1789 oder 1793. Anschließend hatte er große Mühe, sich daran zu erinnern, welche der beiden Zahlen die richtige war (die einschlägigen romantischen Helden und Künstler-des-Lebens wie Victor Hugo müssen ein Zuviel an Vertraulichkeit rächen, so dass sie der vom Glück verwöhnten Jugend die Karten vertauschen, damit diese Jugend ihren Schwung nicht verliert.

          Der erste Beruf, den A X ergriff, war der des Künstlers. Sein künstlerisches Temperament hielt er dabei nicht zurück. Als nämlich eines Tages der Vermieter seiner Wohnung ihn ganz unerwartet aufforderte, die Mansarde zu räumen, in der er lebte, verfertigte er noch am gleichen Tag eine große Anzahl von Wohnungsanzeigen. Auf jedes einzelne Blatt zeichnete er dieselben Figuren: Männchen mit Zylinder und Frack, manchmal auch mit einem Schmetterlingsnetz, die Umrisse von Elfen, dürren Katern und struppigen Hunden. Sie alle saßen traurig und verlassen mit dem Rücken zum Betrachter und schauten den Mond an. Das alles erinnerte natürlich in vielerlei Hinsicht an die Symbolik der Malerei eines Caspar David Friedrich, doch wären die potentiellen Vermieter noch nicht einmal in der Lage gewesen, die „Bremer Stadtmusikanten“ zu erkennen.

          Der Beginn der achtziger Jahre, welchem diese Episode im Leben A Xs zuzuordnen ist, war eine Periode der Stagnation in den gesellschaftlichen Institutionen, was der jungen Generation unbegrenzte Zeit zur Muße bescherte und die Freiheit zu romantischen Fantasien. Damals schrieb A X sein erstes literarisches Werk, den nicht vollendeten Roman „Akzepitalius“, in Anlehnung an die Romane der Barockzeit. Darüberhinaus widmete er viel Zeit dem Studium der Kunstgeschichte, seinem zweiten Beruf. Die akademische Kunstwissenschaft (die Untersuchung des Werkes, seines historischen Stiles oder die Handschrift des Urhebers) waren für ihn von keinem großen Interesse. Seine Studienarbeiten widmete er herausragenden Künstlernaturen (Picasso, Boilly) oder Perioden geschichtlichen Wahnsinns, wenn die schöpferische Energie sich von den Orten losreißt, die ihr von der Gesellschaft zugewiesen werden, von den Museen und Ateliers, wenn sie sich Führer und Kleinbürger zu Gefährten macht und in jedem einzelnen geschichtlichen oder alltäglichen Detail konkretisiert, von dem großartigsten bis zum geringsten (hier erinnern wir noch einmal an die Große Französische Revolution oder auch an die Absurdität des sowjetischen Lebens der 1930er Jahre). Eine wirkliche wissenschaftliche Entdeckung A Xs war die genaue Rekonstruktion von Lenins berühmter Aussage zur Kunst („von allen Künsten ist für uns der Film die wichtigste“). A X machte sich die Mühe, dieses Zitat in den gesammelten Werken ausfindig zu machen und stellte fest, dass es tatsächlich heißen musste „von allen Künsten ist für uns, abgesehen vom Zirkus, der Film die wichtigste“. Das änderte mit einem Schlag den Blick auf die Kulturpolitik der UdSSR.

           In jener Zeit – Mitte der Achtziger – begannen in Russland liberale Reformen. Die Grenzen zwischen den sozialen Gruppen und den Orten, an denen sie sich aufhielten, verschoben sich. A X schloss sich der Gesellschaft der „Neuen Künstler“ an, die das „Ganzerlei“ zu ihrem schöpferischen Prinzip erhoben (Kunst, die aus allem, auf alles und überall gemacht wird), ein Prinzip, welches sich bereits am Anfang des Jahrhunderts Ilya Zdanevich und Mikhail Larionov ausgedacht hatten, die Ideologen der Avantgarde und Liebhaber der primitiven Kunst. Ungefähr 1993 vereinigte A X seine gesamten Interessen und Neigungen in einem totalen Projekt, dem er den Titel „Das Kunstwollen“ verlieh. Das Projekt begann mit der Herausgabe des gleichnamigen Magazins, welches der Mikrobiologie gewidmet war. Die Atmosphäre dieser Edition kann man am besten mit dem russischen Ausdruck „Gärung der Gemüter“ wiedergeben (einem andersprachigen Leser soll gesagt werden, dass auch eine „soziale“ Gärung exisiert, ebenso die Gärung der Bierhefe; daraus stammt das Verb brodit’ – gären, was auch „auf der Straße herumschlendern“ bedeutet). Am Projekt „Das Kunstwollen“ nehmen die engsten Verwandten des Künstlers sowie Zuschauer teil. In der Ausstellung „Mikrobiologie“ im Atelier von A X beispielsweise wurde ein Stück Brot in einem fortgeschrittenen Stadium des Verschimmelns als Artefakt zur Schau gestellt, welches A X allen als Kunstwerk seiner ehemaligen Frau Alla Mitrofanova ans Herz legte, die breiten Kreisen als Medien-Kritikerin bekannt ist, vor allem aber als ein Mensch, der sich niemals vom Alltag bezwingen läßt. Bei der Präsentation eines weiteren Teils des Projektes - „Das Konservieren“ – in der Galerie 21 wurden auf kleine Klappstühle, die mit Blättern mit der Aufschrift „CH V“[2] bedeckt waren, Bier- und Vodkaflaschen sowie geöffnete Konserven mit Sprotten verteilt. Dieser Teil der Ausstellung wurde von den Besuchern ziemlich schnell verspeist. Das westliche Publikum, welches mehr an das Essen gewöhnt ist und eher geistige Nahrung benötigt, wurde von A X mit Beichtstühlen, Duschkabinen und Schreibmaschinen versorgt. Letztere für den Fall, dass sich jemand finden sollte, der schriftlich beichten wollte.

             Die künstlerische Praxis von A X ist eng verbunden mit seinen umfangreichen Reisen, und selbst in St. Petersburg sitzt er nicht zu Hause, sondern pendelt ständig zwischen dem Liteinij und dem Nevskij Prospekt. Im Viertel dieser Straßen fällt den Passanten häufig ein Mensch auf, der mit einem Fahrrad von sehr origineller Konstruktion unterwegs ist: hinten ist ein gelber Korb aus einem Supermarkt befestigt, in dem ein kleiner Junge sitzt, und vorne am Lenker sitzt ein weiterer kleiner Junge. Auf eine solche Weise ist ein bekannter Künstler und Kurator unterwegs, indem er auf sich und mit sich seinen wertvollsten Besitz führt, wie eine Schildkröte ihren Panzer, wie ein Igel Essensvorräte, wie eine Figur von Arcimboldo ihr fantastisches Schmuckwerk.

             Die Autorität von A X ist weiter am Wachsen, und vor nicht allzulanger Zeit erhielt er eine Einladung, seinen gesellschaftlichen Status als Künstler-und-Lehrer-des-Lebens offiziell zu registrieren, und zwar mit dem Eintritt in eines der Petersburger Institute, um dort Theorie der zeitgenössischen Kunst zu unterrichten. „Ach“, sagte er, „Studenten gibt es dort auch? Die schicke ich erstmal zum Almosen Betteln. Sollen sie sich gleich an etwas Handfestem versuchen.“


Ekaterina Andreeva, 4. Juni 1999
Übersetzung: Hannelore Fobo



[1] Andrey Khlobystin, im Russischen Андрей Хлобыстин,  wählt für die lateinische Transkription seines Namens die englische Umschrift, daher beginnt sein Nachnahme mit Kh, welches dem deutschen Ch entspricht. Für die Signatur seiner Werke nimmt er jedoch die kyrillischen Initialen A X, die auch Ekaterina Andreeva in ihrem Essay verwendet. In der deutschen Übersetzung des Textes ist diese Schreibweise beibehalten worden. A. d. Ü.



[2]  im Russischen X B, üblicherweise die Abkürzung von Христос воскресе bzw. Христос воскрес „Christus ist auferstanden", aus der orthodoxen der Liturgie. A. d Ü.