(E-E) Evgenij Kozlov

Анна Каренина 1 / Anna Karenina 1

Oil, canvas / масло, холст, 215 x 149 cm , 1988

"Neues Theater"
Anna Karenina

„Новый театр“
Анна Каренина

Анна Каренина 1 / Anna Karenina 1

Der Rahmen

Das Grundprinzip des Übergangs aus der Alltagswirklichkeit in die Bildwirklichkeit durch einen breiten Rahmen, der Teil des Gemäldes ist, unterstützt Evgenij Kozlov Ende der 80er Jahre durch eine sehr aufwendige Technik des Bildträgers. Hier wird zunächst ein großes Stück Stoff mit langen Stoffstreifen aus einem anderen Material eingefasst. Die Streifen werden mit einer Ziernaht wellenförmig aufgenäht. Auf diese Weise wird der Stoff verformt. Damit er keine Blasen wirft, wird er anschließend auf einer Wand aufgespannt und in mehreren Schichten grundiert. Der Stoff saugt die Grundierung auf und gewinnt dadurch Festigkeit, so daß das Gemälde nach seiner Fertigstellung ausreichend steift ist, um von der Wand abgenommen werden zu können. Bevor der Künstler mit dem Motiv beginnt, legt er den Rahmen an. Er wird außen konturiert durch die Stoffstreifen und innen durch eine farbig gestaltete Linie, womit er sich deutlich vom Bildinhalt absetzt. Der Rahmen fasst den Bildinhalt ein, mehr noch: er beschneidet ihn. Auf diese Weise führt er uns zum Wesentlichen der Komposition, die wir gedanklich weiterentwickeln können.

Seine Funktion ist vergleichbar mit dem unbemalten Rand oder von Ikonen. Dieser war ursprünglich gegenüber dem Bildbereich erhöht, bzw. für den Bildbereich wurde eine Vertiefung geschaffen. Der Übergang zwischen Bild und Rahmen wurde in der Regel angeschrägt, wie man es beispielsweise bei der Dreifaltigkeitsikone Andrej Rublews vom Beginn des 15. Jahrhunderts sieht. Das Auge nimmt die Schräge als dunkleren Schatten wahr. Dies unterstützt die Wahrnehmung der Ikone als Fenster zur geistigen Welt; der Rahmen selbst gehört noch zur irdischen Welt. Der Abschrägung der Ikonen entspricht der "Innenkante" des gemalten Rahmens bei Kozlov. Mit anderen Worten, wir verlassen bei der Betrachtung des Bildes die Oberfläche der Leinwand und dringen in einen anderen Raum ein, der, wenn man ihn im dreidimensionalen Raum bestimmen will, "hinter" dem Rahmen liegt. In Wirklichkeit liegt er außerhalb des dreidimensionalen Raums und seine "Lage" wird durch den breiten Rand lediglich veranschaulicht. Das Feld um die Bildfläche ist somit integraler Bestandteil der Kompostion. Dies muss bei einer Präsentation des Gemäldes berücksichtigt werden. Ideal ist eine Montage auf einen entsprechend gestalteten Untergrund, z.B. auf eine Holzfläche, dessen Ränder parallel zu den Wellenlinien des Gemälderandes verlaufen. Auf diese Weise wird die Funktion des Rahmens verdeutlicht.

Zum Prinzip des Rahmens im Bild siehe auch Leningrad>>, 1988 und Anna Karenina 2 >>.

Das Motiv

"Anna Karenina 1" und "Anna Karenina 2" wurden etwa gleichzeitig Ende 1987/Anfang 1988 begonnen und haben eine Reihe gemeinsamer Merkmale, die hier aufgeführt werden sollen.

Es handelt sich um Gemälde, die zunächst ohne Titel geblieben sind. Den Titel erhielten sie im Zusammenhang mit der Ausstellungstournee, die sie über Stockholm (1988) und Liverpool (1989) nach New York führte; 'Anna Karenina 1' befindet seit jener Zeit in einer Privatsammlung, 'Anna Karenina 2' kehrte zum Künstler zurück.

Die Titel beziehen sich auf die Performance "Anna Karenina" des "Neuen Theaters" im Goroshevski-Theaters oder auch "Klub in der Tchernishevskiy-Strasse" im Jahre 1984 oder 1985, die Evgenij Kozlov fotografiert hat mehr >>

Zwei der Fotografien hat Evgenij Kozlov übermalt. Sie sind datiert mit 1986/87. Der Künstler hat Abzüge in der Größe von 10 x 15 cm hergestellt, die auf einen Karton aufgeklebt wurden. Hier ist das Prinzip des Rahmens bereits erkennbar. Die Technik der Übermalung und auch die Wahl der Farbtöne ist auf beiden Fotgrafien ähnlich. E-E arbeitete zu jener Zeit vorzugsweise mit einen gleichmäßig deckenden Nitrolack, den er zur flächigen Übermalung und zur Konturierung der Motive nutzte (ab Anfang der 90er Jahre verwendet er zur Erzeugung dieses Effekts Lackstifte). In einer starken Verdünnung ist dieser Nitrolack außerdem zur Kolorierung geeignet, so dass die Fotografie durch die Farbe hindurchschimmert. Für "Anna Karenina 1" spielt insbesondere der kühle Blauton in den Gesichtspartien spielt eine Rolle. Auf entfernte Weise erinnern diese Fotografien tatsächlich an die Technik der Kolorierung von schwarz/weiß Portraits – eine Arbeitsweise, die in Rußland wegen der eingeschränkten Möglichkeit zur Farbfotografie auch von professionellen Fotostudios bis zum Beginn der neunziger Jahre verwendet wurde. Andererseits geht die hier die Radikalität der Übermalung über traditionelle Methoden hinaus. Der Künstler beabsichtigt ja nicht, etwaige Mängel der Schwarzweiß-Fotografie auszugleichen. Man kann hier vielmehr von einer Metamorphose des Bildinhaltes sprechen.

Ein Vergleich von Fotgrafie und übermalter Fotografie zeigt die Reduktion des Bildinhaltes auf bestimmende Bildelemente und deren Akzentuierung. Mit dem Auftragen der Farbe wird die Komposition scheinbar geringfügig, tatsächlich beträchtlich verändert. Eine Reihe von Hintergrundelementen wird hinausgeworfen. In der Fotografie von "Anna Karenina 1" wird der aufragende Arm der linken Figur (Sergej Bugaev/Anna Karenina) in eine punktierte Fläche transformiert. Dadurch sind die Figuren distanzierter und ihre ihre heftige Interaktion erlangt eine gewisse Beruhigung. Eine weitere sehr subtile Veränderung erlangen die Gesichtszüge Timur Novikov/Karenins, deren Zartheit in das Gemälde übernommen wird. Sein Ausdruck wird innerlicher.

In erster Linie fallen bei den Übermalungen jedoch die plastischen Umrandungen und die ornamentale Punktierung bzw. Schraffierung auf. Sie schaffen Räumlichkeit und Dynamik. Die Konturierung mit starken Linien bildet einen Schattenrand, der teilweise direkt aus der Fotografie übernommen wird. Beispielsweise wirft der angehobene Arm Timur Novikovs eine Schattenlinie nach unten, die auf der übermalten Fotografie auch oberhalb des Armes erscheint. Novikovs Profil wird durch einen zusätzlichen Strahlenkranz - eine Aura - konturiert.

Obwohl Evgenij Kozlov sich beim Entwurf für das anschließende Gemälde ganz eindeutig auf die übermalte Fotografie stützt, wäre es verkehrt, sie als Zwischenphase oder gar als Skizze für das Gemälde zu interpretieren, zumal sie sie kompositorisch nur ein Drittel des Motivs ausmacht. Sie ist aber für sich abgeschlossen. "Reine" Ideenskizzen nehmen in seinem Werk eine andere Form an, zum Beispiel als Sammlung von Zeitungsausschnitten oder als beschriebene Notizzettel, die sich auf ein bestimmtes Werk beziehen ("Kopf leicht nach links drehen, Lippen blau" oder "alle geknickten Linien schwarz ausmalen"). Daß sich die Werke fortlaufend inspirieren, macht sie deswegen nicht zum Entwurf, sondern unterstreicht ihre künstlerische Qualität.

Wenden wir uns nun dem Gemälde "Anna Karenina 1" zu. Zunächst eine Vorbemerkung, die auch für alle anderen Gemälde mit erkennbaren Figuren gilt: wenn hier durchgehend die Namen der Personen verwendet werden, wie sie auf der Fotografie zu identifizieren sind, so heißt das nicht, dass sie sich selbst darstellen. Der Grad der Verfremdung besser, der Umschöpfung, bringt eine Individualität zur Entfaltung, die aus der "Alltagsperson" herausgewachsen ist. Für die Besprechung der Gemälde ist es jedoch einfacher, auf die ursprünglichen Namen zurückzugreifen, statt von "Figur 1" und "Figur 2" zu reden.

Das Gemälde "Anna Karenina 1" wird dominiert durch die beiden Figuren, die wir von der Fotografie kennen, doch befinden sich diese im offenen Raum. Der bläuliche Grundton dieses Raums in Verbindung mit der weißen, gewölbten und ausgestanzten Fläche im unteren Viertel legt nahe, dass sie sich weit oberhalb der Erde befinden. Zusammen mit einer Art Leiter, die sich Evgenij Kozlov aus der übermalten Fotografie von "Anna Karenina 2" "ausgeliehen" hat, bilden diese Figuren den Bildvordergrund. Die Kompostion ist pyramidenförmig aufgebaut, wobei die Pyramide in die Diagonale gekippt ist. Der Fuß der Leiter bildet die Grundlinie der Pyramide. Auf der Leiter sitzt wie auf einem Stuhl die linke Figur (Bugaev), und eine schwarze, rotgepunktete Fläche, die den Hintergrund des "Stuhls" bildet, zieht sich nach oben. Es ist klar, daß der Bildrahmen die Diagonale lediglich abschneidet. Die Leiter steht wohl irgendwo tief unten auf, und die rotgepunktete schwarze Fläche wird nach oben gesogen. Bildvordergrund und Bildhintergrund sind durch ein großmaschiges Gitter deutlich getrennt. Es wölbt sich um eine ringförmige Öffnung, eine Luke. Durch diese Luke blicken wir auf die ebene Fläche einer weißen Landschaft, über der sich das Blau der Atmosphäre weitet, die sich nach allen Seiten fortsetzt. Dieser Ring um die Luke herum scheint in Bewegung zu sein; wir finden die Bewegung in der gerundeten Schraffierung angedeutet. Sie setzt sich als Spirale entlang Timur Novikovs Arm nach oben fort. Doch auch die durch das Gitter leuchtende Atmosphäre ist bewegt mit ihren flächigen Abstufungen von Blau sowie keil- und stichförmigen Einsprengseln von weiß und braun.

Trotz dieser Bewegtheit wirkt die Komposition nicht unruhig. Sie ist klar zentriert auf den mittleren Bereich: das "W" oder auch "X", das aus den beiden Köpfen und den angewinkelten Armen der Figuren gebildet wird. Es durchkreuzt die Längsdiagonale oberhalb der Beine Sergej Bugaevs. Damit fixiert es den Vordergrund. Diese Partie, die wir aus der übermalten Fotografie kennen, ist fast vollständig in das Gemälde eingegangen. Allerdings ist sie dabei leicht gegen den Uhrzeigersinn gekippt und Novikovs rechter Arm weit nach oben gezogen worden. Der Effekt ist, dass die Körper nun nicht mehr auseinanderdriften wie auf der Fotografie, sondern eine komplementäre Einheit bilden. Komplementär sind die Gesichtsausdrücke: offen und kommunikativ bei Sergej Bugaev – auf sich konzentriert und still Timur Novikov; weiter die angewinkelten Arme: weiß mit fotorealistischen Zügen der von Bugaev, leuchtend rot, plastisch und glatt Novikovs. Novikovs Hand, die auf der ursprünglichen Fotografie weiß und fremd ins Bild ragt, behält im Gemälde ihre ganze Eigentümlichkeit: den Schwung der Geste, ihre Starrheit mit den leicht geöffneten Fingern, die ihr das Aussehen einer Prothese gibt. Die rote Hand dominiert bereits die übermalte Fotografie. Im Gemälde ist die Hand mit dem daran angesetzten Unterarm das Element, das dem Betrachter am nächsten liegt. Er bildet den Schwerpunkt des Gemäldes und akzentuiert die Diagonale. Ihr leuchtender Ton, der in entscheidenden Partien des Werkes wieder aufgenommen wird, bildet den warmen Kontrapunkt zum kühlen Blau-Grün des Gemäldes.

Erst bei längerer Betrachtung entschlüsselt sich der Aufbau der Komposition vollständig. Auf den ersten Blick scheint sich die Figur Novikovs vollständig an die Diagonale zu schmiegen. Nach einer Weile erst bemerkt man auch sein zweites Bein – ein Roboterbein, mit dem er einen großen Schritt nach vorne macht. Doch da es nur umrisshaft angedeutet ist und sich zudem mit der Leiter überlagert, bringt man es nicht sofort mit der Figur Timur Novikovs in Verbindung. Hat man es aber entdeckt, so stellt man fest, dass sein kantige, abstrahierende Gestaltung bereits in dem anderen Bein begonnen wurde, und es baut sich eine harmonische Folgerichtigkeit auf. Mehr noch: man beginnt, die Kraft dieser Figur zu spüren – sie wird dynamisch und geht eine Beziehungmit dem kosmischen Ring ein. Die Komposition ist nun nicht mehr "aufgehängt" (an einer Diagonale verankert), sondern lebt aus ihrem Mittelpunkt heraus.

Die folgenden Schlußbemerkungen stammen aus der Beschreibung von "Anna Karenina 2" und gelten auch hier. Der besseren Lesbarkeite wegen werden sie direkt an den Text angefügt.

Worauf hier weitgehend verzichtet wurde, ist eine Interpretation des Gemäldes im Sinne einer Bedeutungszuordnung zu einzelnen Teilen oder zum Gesamtbild. Soviel ist klar: dass diese Szene sich abseits irdischer Bedingungen abspielt und dass hier andere Gesetze herrschen als die, die man von der Fotografie kennt. Andererseits sind uns die Figuren als solche nicht wirklich fremd.

Der Schlüssel zum Verständnis liegt darin, die Figuren der Kompostion weder als Abbilder (Portraits) der realer Personen aufzufassen, was der Bezug auf die Fotografien nahelegen würde, noch sie als Symbole für eine Aussage, einen Position des Künstlers zu halten. Evgenij Kozlov nutzt die Figuren nicht als Vorwand, um damit etwas darzustellen, sondern entwickelt die Figuren zu einer Vollkommenheit, die in der Realität nur als Potential vorhanden ist. Diese Vollkommenheit ist gleichwohl eine individuelle, sie folgt nicht einer abstrakten Idee eines "Vollkommenen", sondern bildet sich am Individuum aus. Daher die Lebendigkeit dieser Schöpfung, die auf jegliche Stereotypie verzichten kann, wie sie in Werken vorkommt, die mit der Idee nicht die Wirklichkeit befruchten können.

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